Welche Fehler passieren im Umgang mit der Bibel?
Fehler im Umgang mit der Bibel passieren nur dem, der die Bibel liest. Und natürlich kann die angemessene Antwort auf diese Tatsache nicht sein, gar keine …
Fehler im Umgang mit der Bibel passieren nur dem, der die Bibel liest. Und natürlich kann die angemessene Antwort auf diese Tatsache nicht sein, gar keine Bibel zu lesen. Denn das Gleichnis von den anvertrauten Talenten (Matthäus 25,14ff) illustriert sehr eindrücklich: Wer im Blick auf das Reich Gottes Fehler vermeiden will, indem er überhaupt nichts tut, begeht damit den größten aller Fehler. Wenn du also zu den glücklichen Menschen gehörst, die in ihrem Bücherschrank eine Bibel stehen haben, und du nur an Sonn- und Feiertagen mal hineinschaust, dann ist der vorliegende Beitrag nichts für dich. Ich wende mich hier an Leute, die die Bibel a) lesen, b) verstehen wollen und ihren Inhalt c) in kreativer Weise an andere (z.B. Teens, Jugendliche) weitergeben wollen. Zwischen a), b) und c) gibt es verschiedene Knackpunkte, die am Ende dafür sorgen, dass Gedanken entstehen, die nirgendwo – oder zumindest nicht dort – in der Bibel stehen. Die zehn Haupt-Knackpunkte („in unseren Kreisen“ und laut meiner Erfahrung) habe ich versucht, hier auf den Punkt zu bringen.
1. Kontext nicht gepeilt
Die häufigsten Fehler entstehen dort, wo Inhalte dem Text entnommen werden, ohne den Textzusammenhang zu beachten. Jedem ist klar, dass es unfair ist, einen Satz aus einer Politiker-Rede zu picken und ihn dann als Schlagzeile in die Zeitung zu setzen. Denn eventuell kann dieser Satz genau das Gegenteil dessen meinen, was der Politiker beabsichtigte. Genauso unfair ist es, wenn man zum Beispiel den Prediger Salomo nicht bis zu Ende reden lässt und mal eben einen Satz aus seiner Predigt pickt: Prediger 11,9a: „Freue dich, Jüngling, in deiner Jugend, und dein Herz mache dich fröhlich in den Tagen deiner Jugendzeit! Und lebe nach dem, was dein Herz wünscht und wonach deine Augen ausschauen!“ Wer sich diesen Vers auf einem Poster ins Zimmer hängt, hat zwar ein Bibelwort vor Augen, aber eben eins, das nicht dem Ziel des Autoren entspricht. Schon im nächsten Vers wird klar, dass es nicht um ein „just for fun“-Dasein, sondern um ein zielorientiertes Leben geht. Doch aus irgendwelchen Gründen passieren solche Fehler in Predigten, Andachten, Büchern… immer wieder. Dabei gebietet der gesunde Menschenverstand, dass man zum Beispiel einen Brief erst einmal komplett gelesen haben muss, bevor man einzelne Sätze aus ihm zitieren kann.
2. Historische Faulheit
Apropos Brief: Wer einen Brief verstehen will, der kommt nicht klar, wenn er Absender und Adressat nicht kennt. Bei den biblischen Briefen ist in den meisten Fällen klar, von wem sie stammen und an wen sie gerichtet sind. Aber das reicht noch nicht. Man muss Fakten sammeln, sich in die Situation hineindenken, die zeitlichen Rahmenbedingungen (politische Verhältnisse, soziales Umfeld, Lebensstil usw.) berücksichtigen.
Auf diese Weise entsteht ein Hintergrundbild, auf dem ein neutestamentlicher Brief viel klarer verstanden werden kann. Natürlich ist so eine „historische Kontextanalyse“ nicht nur im Blick auf Briefe wichtig, sondern für alle biblischen Bücher. Und natürlich macht das richtig Arbeit. Denn 2000 Jahre (und mehr) wollen erst einmal gedanklich überbrückt sein. Aber die Arbeit lohnt sich: Es ist zum Beispiel für den Römerbrief ein echter „Opener“, wenn man den Konflikt zwischen Juden(christen) und Heidenchristen im Blick hat. Die Vertreibung der Juden aus Rom 49 n. Chr. unter Kaiser Claudius hatte tiefe Spuren hinterlassen. Und es ist kein Zufall, dass Paulus ausgerechnet der Gemeinde in Rom „sein Evangelium“ so detailliert erklärt…
3. Fantasy-Auslegung
Viele ahnen nichts davon, dass ihr Stil der Bibelauslegung bis auf den Kirchenvater Origines (2./3.Jh.) zurückreicht: Von der Spätantike quer durchs Mittelalter bis heute erfreut sich die Allegorie einer großen Beliebtheit: Man sucht im Bibeltext jeweils nach einer übertragenen geistlichen Bedeutung, während der Sinn für das, was sich wirklich abspielte, sehr schwach ausgeprägt ist (also in Kombination mit Punkt 2). Die große Gefahr der Allegorie liegt in der Willkür: Wer genug Fantasie hat, findet im Text alles, was enden will. Aber mit Bibelauslegung hat das nichts mehr zu tun. Was Exegese (Auslegung) sein soll, wird zur Eisegese (Hineinlegung).Was Exegese (Auslegung) sein soll, wird zur Eisegese (Hineinlegung). Deshalb lautet eine der Grundregeln der Auslegung: Gemeint ist das, was dasteht!
Natürlich gibt es auch Bibeltexte, die über ihren Wortsinn hinaus auf andere Zusammenhänge hindeuten. Doch das wird meist schon an der Gattung des jeweiligen Buches deutlich. Prophetische und apokalyptische Bücher (Daniel, Offenbarung) muss man aufgrund ihrer Symbolsprache anders lesen als einen historischen Bericht wie die Apostelgeschichte.
4. „Die Botschaft hab ich wohl, allein mir fehlt der Text.“
Wer anderen einen wichtigen geistlichen Gedanken mitteilen will, den er nicht in der Bibel gefunden hat, steht in der Versuchung, in zwei verschiedene Richtungen zu entgleisen. Die einen greifen zu oben erwähnter Allegorie: Mit der allegorischen Tonnenpresse wird ein beliebiger Text so lange ausgequetscht, bis er das sagt, was er sagen soll. Andere nehmen irgendeinen Text als Sprungbrett, um dann ihren „eigentlichen Gedanken“ zu entfalten. Der Bibeltext dient also nur als Alibi. Man hätte ihn auch weglassen können. Beides ist eine Katastrophe. Vor allem dann, wenn das Ganze auch noch die Bezeichnung „Bibelarbeit“ trägt. Wenn ein Zuhörer/Teilnehmer einer Bibelarbeit im Nachhinein nicht nachvollziehen kann, wie ein Gedanke aus dem Bibeltext entstand, dann ist das Etikett „Bibelarbeit“ unangebracht. Letztlich entsteht aus solchen Faktoren eine Inflation des Begriffs „Bibelarbeit“.
5. Heilsgeschichtliches Querfeldein
Wer in der Brüderbewegung groß geworden ist, hat normalerweise den so genannten „heilsgeschichtlichen Ansatz“ verinnerlicht: Gottes fortschreitende Geschichte mit den Menschen ist die Grundlage der Bibelauslegung. Insofern gibt die Bibel „einen Guss“ und man kombiniert in Predigten und Bibelarbeiten Texte aus völlig unterschiedlichen Epochen, Kontexten munter miteinander. Von der Weltschöpfung wird der große Bogen über Israel, die Gemeinde bis zur Neuschöpfung geschlagen. Einerseits ist das richtig, weil ja hinter der gesamten Bibel der gleiche Gott steht, der sich offenbart. Andererseits kann dieses Kombinieren von Bibelstellen aber auch sehr problematisch sein, wenn man dabei unfähig wird, bei der Aussage eines einzelnen Bibeltextes stehen zu bleiben: Was will dieser Text in seinem konkreten Kontext sagen? Erst wenn man diese Frage solide beantwortet hat, kann man die zweite Frage stellen: Wo in der Bibel wird der Gedanke weitergeführt? Was will dieser Text in seinem konkreten Kontext sagen?Anders ausgedrückt: Nur wer die Einzelpunkte richtig verstanden hat, kann sie am Ende auch zu (heilsgeschichtlichen) Linien verbinden.
6. Systemdenken
Eine ganz besonders problematische Erscheinung ist das Systemdenken. Wer sich darunter nichts vorstellen kann, dem sei mit dem Stichwort „Zeugen Jehovas“ auf die Sprünge geholfen. Zeugen Jehovas haben ein theologisches System im Kopf, das vom „Wachturm“ vorgegeben und mit einer großen Zahl Bibelstellen gefüttert wird. Die Bibelauslegung erfolgt nur innerhalb dieses Systems. Der Textwille wird zugunsten des Systems geopfert, sodass selbst Bibelstellen, die gegen das System sprechen, so eingepasst werden, dass sie ihm dienen. „In unseren Kreisen“ spielt zwar der „Wachturm“ keine Rolle, aber Systemdenken gibt es auch (z.B. in punkto Endzeitlehre). Selbstkritisch sollte man immer dann sein, wenn man auf Bibeltexte stößt, die im krassen Widerspruch zur eigenen Annahme stehen, und man deshalb versucht ist, den Sinn dieses Textes „passend zu machen“.
7. Bibelkenntnis oder Bibelstellenwissen?
Wenn man Johannes 3,16 und Johannes 14,6 auswendig aufsagen kann, dann ist das klasse. Aber es beweist noch lange nicht, dass man das Johannesevangelium verstanden hat. Bibelstellenwissen ist nur ein Teil der Bibelkenntnis. Mindestens genauso wichtig ist, dass man versteht, was ein biblisches Buch will: Was sind die Ziele? Was wird besonders hervorgehoben? Dazu ist es einerseits nötig, den Kontext einer Stelle im Blick zu haben (siehe Punkt 1) sowie den Autoren und die Adressaten zu kennen (siehe Punkt 2). Zum anderen ist es aber auch nötig, biblische Bücher als Ganzes zu lesen, um nicht dem Kalenderzettelchristentum zu verfallen. Natürlich hängt auch das wieder stark von der Buchgattung ab: Einzelne Psalmen oder Sprüche sprechen für sich, weil sie aus Lied- und Spruchsammlungen stammen. Anders sieht der Fall aber aus, wenn man so komplexe Argumentationen wie den Römerbrief vor sich hat. Hier kann man ganze Abschnitte falsch verstehen, wenn der Überblick über Römer 1-16 fehlt.
8. „Ich habe die richtige Erkenntnis.“
Wer sich einmal mit Hermeneutik (Verstehenslehre, Auslegungstheorie) beschäftigt hat, dem ist klar, dass das Verstehen eines Bibeltextes zum Teil vom Vorverständnis abhängt. Man könnte auch „Brille“ dazu sagen. Kultur, Theologie, Lebensbedingungen, Vorbildung und überhaupt die ganze Biografie sorgen dafür, dass Menschen mit verschiedenen Brillen Bibeltexte unterschiedlich verstehen. Wer sich darüber keine Gedanken macht und nie die Chance zur Horizonterweiterung habe, geht davon aus, dass er selbst immer „das richtige Bibelverständnis“ hat, während Andersdenkende in seinen Augen zwangsläufig Irrlehrer sind. Mit einer solchen Haltung sinkt die Korrekturfähigkeit gegen Null. Ich muss mir beim Lesen der Bibel bewusst sein: Gottes Wort ist absolut, aber meine Erkenntnis ist relativ. Ich muss mir beim Lesen der Bibel bewusst sein: Gottes Wort ist absolut, aber meine Erkenntnis ist relativ.Deshalb ist der Vergleich mit den Sichtweisen anderer (auch in Form von Kommentaren usw.) wichtig. Was Kommentatoren schreiben, ist natürlich auch relativ.
9. Griechisch-Anfänger-Syndrom
Es gibt eine Reihe von Mitarbeitern, die den lobenswerten Versuch unternommen haben, sich des neutestamentlichen Griechisch zu bemächtigen. Andere nutzen eine Interlinearübersetzung oder schnappen den einen oder anderen griechischen (oder auch hebräischen) Begriff irgendwo auf.
Meine Überzeugung ist: Halbverstandene Kenntnisse der biblischen Grundsprachen richten meist mehr Schaden an als sie Nutzen bringen. Ein typischer Fehler besteht darin, dass man meint, alle Bedeutungen, die im Lexikon einem griechischen Begriff zugeordnet werden, müssten sich auch in der Bedeutung eines Textes wiederfinden. Man findet zum Beispiel im griechischen Grundtext die Präposition kata, die mit „von, herab, gegen, längs, gemäß, nach“ wiedergegeben werden kann. Und nun versucht man, alle sechs Varianten in die Auslegung zu packen. Doch was ein einzelnes Wort meint, wird stets durch den Kontext entschieden. Die biblischen Autoren wollten ja nicht sechs verschiedene Varianten anbieten, sondern einen Text mit einer Bedeutung! Sonst wäre Gottes Wort keine Offenbarung, sondern eine Verwirrung.
Andere sind zum Beispiel stolz darauf, die griechischen Begriffe für „Liebe“ auseinander halten zu können: philia, eros und agape. Dabei meint man, agape sei die göttliche Liebe. Falsch: Agape ist ein Allerweltsbegriff, der oft auch die Liebe zwischen Menschen meint. Kenntnisse der biblischen Sprachen sind wichtig, aber sie müssen auch richtig sein.
10. „Die einzig wahre Übersetzung.“
Meine Standardbibel ist die Revidierte Elberfelder, von der ich allen gegenteiligen Meinungen zum Trotz behaupte, dass auch Jugendliche sie verstehen, wenn sie engagiert vorgetragen wird. Aber diese Übersetzung hat auch Schwächen. Und diese Schwächen werden noch gravierender, wenn sie mit einer falschen Einstellung des betreffenden Lesers kombiniert sind. Wer glaubt, jede andere Übersetzung sei schon Interpretation, während allein die Elberfelder (oder Luther, Schlachter) die einzig wörtliche sei, liegt falsch. Es gibt keine Bibelübersetzung ohne Interpretation durch die Übersetzer! Auch im Fall der Elberfelder bist du als deutscher Bibelleser von der theologischen Sicht des Übersetzerteams abhängig. Du musst ihnen vertrauen, dass sie ihren Job richtiggemacht haben. Bei kommunikativen Übersetzungen wie „Hoffnung für alle“ oder „Gute Nachricht“ ist die Interpretation zwar viel stärker ausgeprägt, aber auch die Elberfelder kommt nicht umhin, exegetische Entscheidungen für den Leser zu treffen (z.B. indem sie eckige Klammern einfügt).
Dieser Artikel ist zuerst erschienen im cj-lernen.de Spezial „Bibelarbeiten, die ankommen“. Das Magazin kann unter www.cj-lernen.de/spezial1.pdf online betrachtet oder in unserem Shop bestellt werden.