Glaube(n) mal anders!
Wie und was erzählt man Menschen vom christlichen Glauben, die in einer der ungläubigsten Regionen der Welt wohnen, damit sie den Wunsch entwickeln, „da will ich dazu gehören“?
Vor einigen Jahren berichtete die WELT von einer der gottlosesten und ungläubigsten Regionen der Welt. Jahrzehntelang hatte dort der gottfeindliche Kommunismus die geistliche Landschaft verwüstet und zerstört, sodass Religionen ein Schattendasein fristeten. Noch heute sind viele Ängste vorhanden, dass Kirche und Religion manipulierend und gefährlich sei. Eine Studie der Universität Chicago aus 2012 führte zu dem Ergebnis, dass sich über die Hälfte der Bewohner dieser Region als Atheisten bezeichneten und nirgendwo außer in Japan weniger Menschen an einen persönlichen Gott glaubten (8%) (*).
Wie erzählt man also Menschen vom christlichen Glauben, die aufgrund dieses areligiösen Milieus möglicherweise noch nie damit in Berührung gekommen sind? Die der Überzeugung sind, „es gibt keinen Gott“? Wie geht man mit diesem tiefen Misstrauen gegenüber dem Glauben um? Was sollten diese Menschen am christlichen Glauben kennenlernen, um den Wunsch zu entwickeln, „da will ich dazu gehören“?
Herzlich Willkommen im Osten von Deutschland, wo uns genau diese Fragen beschäftigen. Seit ungefähr drei Jahren arbeite ich bei einem christlichen Verein in der Offenen Kinder- und Jugendarbeit. Unser Stadtteil besteht aus Plattenbauten und über die Jahre hinweg haben sich hier vor allem Familien angesiedelt, die mit vielfältigen sozialen Belastungen wie Arbeitslosigkeit, Armut, Suchterkrankungen, Bildungsferne, frühe Elternschaft und Migrationshintergrund. Diese sozialen Benachteiligungen sind Risikofaktoren für die Heranwachsenden. Mein Team und ich möchten für diese Menschen da sein. Unsere Räumlichkeiten befinden sich mitten im Stadtteil, sodass Kinder und Jugendliche unkompliziert an offenen Angeboten zur sinnvollen Freizeitgestaltung und sozialpädagogischer Einzelhilfe teilnehmen können.
Den christlichen Glauben beobachten können
Zu unseren offenen Angeboten gehören auch geistliche Angebote, wie das gemeinsame Feiern (christlicher) Feste und Feiertage, Freizeiten und Kleingruppen, die Jungschar oder Teenkreis ähneln. Hierdurch erhalten die Bewohner unseres Stadtteils die Möglichkeit, den christlichen Glauben und Jesus Christus in einem ungezwungenen Rahmen kennenlernen zu können. Die Teilnahme an geistlichen Angeboten und Übungen ist freiwillig und die Mitarbeiter machen ihre Beweggründe transparent. Wenn ich beispielsweise bei einem Fest bete, erkläre ich, dass es mir wichtig ist, Gott für das Essen zu danken und laden dazu ein, mitzubeten. Dabei stelle ich es aber jedem frei, mitzumachen oder sich lediglich ruhig zu verhalten. Diese Freiwilligkeit sehe ich aufgrund des tiefen Misstrauens gegenüber Religion als notwendig und sinnvoll an.
Kulturelle Prägung beachten
Eine weitere Erkenntnis, die mich mittlerweile in meiner Arbeit begleitet, ist, dass die kulturelle Prägung Auswirkungen auf unser Verständnis der guten Nachricht von Jesus hat (siehe Jayson George „Mit anderen Augen“). Entgegen der gängig vorherrschenden Schuld-Unschuld-Kultur in Deutschland, scheinen die Menschen unseres Stadtteils große Teile der Scham-Ehre-Kultur in sich zu tragen. Diese ist kollektivistisch geprägt und orientiert sich an den Erwartungen der Gruppe (Familie, Verein, Volk). Ehre ist die gesellschaftliche Würde und der Wert, den man vor den Augen der Gemeinschaft hat. Scham hingegen ist, wenn die Gemeinschaft schlecht über einen denkt. Deshalb spielen Beziehungen und Harmonie innerhalb dieser Beziehungen eine wesentliche Rolle. Es herrschen keine klar definierbaren moralischen Regeln, sondern die Überzeugung, dass das moralisch richtig ist, was als das Beste für die Beziehung gilt. Bei Vergehen gegen die Erwartungen der Gruppe wird die Person aus der Gemeinschaft ausgeschlossen und verliert ihre Würde. Jesus Umgang mit diesen ausgeschlossenen Menschen war, sie zu heilen, anzunehmen und ihre Ehre wiederherzustellen, sodass sie wieder ein Teil der Gemeinschaft sein konnten. Wenn ich in unserem Stadtteil also von der guten Nachricht von Jesus spreche, geht es nicht so sehr um die Vergebung von Schuld, sondern darum, dass Jesus uns einlädt, zu seiner Familie zu gehören. Er möchte Beziehungen wiederherstellen und das heilen, was zerbrochen ist.
Den christlichen Glauben vorleben und Erprobungsräume schaffen
Diese Einstellung von Jesus möchte ich, so gut ich kann, vorleben, indem ich einen wertschätzenden Umgang mit den Menschen pflege, denen ich begegne. Ich möchte ihnen vermitteln, dass jeder einzelne Mensch als Geschöpf Gottes wertvoll und geliebt ist. Und, dass bei Jesus und deshalb auch bei unseren Angeboten jeder willkommen ist und Teil der Gemeinschaft sein darf. Ohne irgendwelche Voraussetzungen hierfür erfüllen zu müssen.
Am Beispiel unseres Teenkreis-ähnlichen Angebots möchte ich dies weiter verdeutlichen. Dieses setzt sich hauptsächlich aus Tischgemeinschaft und dem Erklären und Erlebbar machen von biblischen Geschichten und Inhalten zusammen. Das gemeinsame Essen und Quatschen ist wesentlicher Bestandteil für unser Gemeinschaftserlebnis, weil es gleich mehrere Grundbedürfnisse der Jugendlichen stillt (körperlich, Sicherheit, sozial). Das gemeinsame Gebet vor dem Essen wird normalerweise von den Mitarbeitern gesprochen und gehört so selbstverständlich dazu, dass die Jugendlichen es tatsächlich auch von uns einfordern. Schon hier wird der Glaube ganz praktisch, denn mittlerweile fragt häufig ein Teenie, ob er das Tischgebet sprechen darf. Er merkt so, dass er auch selbständig mit Gott reden kann.
Wenn wir uns dann mit der Bibel beschäftigen, achten meine Kollegin und ich darauf, dass wir „kanaanäische“ Begriffe erklären, nachfragen, was sie darunter verstehen oder Begriffe aus der Lebenswelt der Jugendlichen verwenden. Häufig erklären wir den biblischen Kontext zu einer Geschichte oder lassen sie die Teens praktisch erleben. Mit den Jugendlichen haben wir so erst den Aufbau der Bibel und das Finden von Bibelstellen durchgenommen, um dann die ersten Kapitel von Mose durchzugehen. Hier setzen wir darauf, dass die Jugendlichen selbst zusammenfassen, was sie sich vom vorherigen Treffen gemerkt haben und wir wiederholen wichtige Inhalte, die wesentlich für den roten Faden zu Jesus sind. Für meine Vorbereitungen nutze ich oft Unterrichtsmaterial aus meiner Bibelschulzeit und bin immer wieder überrascht, wie viel schneller unsere Jugendlichen logische Schlüsse ziehen können, als ich selbst. Wie zum Beispiel, dass der Bund zwischen Gott und Abraham doch sehr einseitig war und zu Lasten von Gott selbst ging und „wie dumm das eigentlich von ihm war, so ein Versprechen zu geben“. Und auch, wenn ich es vielleicht etwas anders formulieren würde, finde ich, dass der Jugendliche durchaus Recht hat. Im vergangen Jahr durften wir also Teens und Jugendliche erleben, die mit Begeisterung Bibelstellen aufschlagen und ganz enttäuscht sind und es sogar unfair finden, wenn keine Zeit mehr dafür ist.
Es ist eine wahre Freude, bei Teens und Jugendlichen zurzeit eine große Offenheit und ein echtes Interesse am christlichen Glauben zu erleben. So saßen z.B. am Dienstagnachmittag acht Teens mit meiner Kollegin zusammen, während aus einem Lautsprecher der Auftrag Gottes an Mose ertönt: „Ich habe dich ausgewählt, mein Volk aus Ägypten wegzuführen.“ Sie erklärte den Teens anhand eines Hörspiels, warum das Volk Israel befreit werden musste und, dass Gott sich Mose für diesen Auftrag ausgesucht hatte. Am Ende sagte sie: „Nächsten Dienstag erzähle ich euch, wie die Geschichte weitergeht.“ Daraufhin sagte einer der Teenager ganz entrüstet: „Aber jetzt ist es doch so spannend! Kannst du nicht noch weitererzählen?“
Ein anderes Mal kam ein Jugendlicher mit muslimischem Hintergrund mit zu einem Jugendgottesdienst. Im Laufe des Abends gab es die Möglichkeit, eine Bitte an Gott aufzuschreiben. Der Jugendliche erklärte unserem Mitarbeiter, dass er schlecht schlafe und in den Nächten oft Angst habe. Gemeinsam beteten sie für einen besseren Schlaf. Dieses Erlebnis hat ihn tief bewegt. Immer wieder erzählte er in den nächsten Tagen: „Ich habe geweint. Ich habe zu Gott geredet für besseren Schlaf“. Derweil beteten wir Mitarbeiter darum, dass Gott sich ihm durch das Verschwinden der Angst zeigen würde und er den Moment in der Kirche mit dem christlichen Gott in Verbindung setzen würde.
Das Entscheidende
Als Mitarbeiter merken wir immer wieder, dass es diese Alltagsituationen sind, in denen wir Glauben vorleben und Jugendliche dadurch ins Fragen und selbst ausprobieren kommen. Wir können nur immer wieder auf Jesus hinweisen und so leben, wie es zu Jesus passt. Dabei brauchen wir einen langen Atem, um verlässliche und vertrauensvolle Beziehungen aufzubauen, in denen Menschen angenommen bleiben, egal, ob sie gläubig werden oder nicht. Denn am überzeugendsten ist, wenn sie uns Christen erleben können, wie wir sind, wie wir mit Menschen und Situationen umgehen und, wie wir das, was wir glauben, im Leben umsetzen. Menschen werden sich entscheiden, mit Jesus zu leben, wenn sie unser Leben sehen und es in Zusammenhang damit bringen, dass wir so sind, also gut und positiv und für sie, weil wir an Jesus glauben. Dass sie diesen Unterschied in unserem Leben erkennen, das attraktiv finden und sagen, „da will ich auch dazu gehören“.
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George, Jayson, 2014: Mit anderen Augen. Perspektiven des Evangeliums für Scham-, Schuld- und Angstkulturen. 3. Aufl., DMG Interpersonal e.V. & Neufeld Verlag, Cuxhaven.