Gemeinde – neu entdeckt
Es fing mit ein paar unverbindlichen Treffen von Freunden an und mündete in der Entstehung der Brüderbewegung. Eine wahre Geschichte aus den Anfängen.
Wie entstanden eigentlich die Brüdergemeinden? Was war ursprünglich ihr zentrales Anliegen? Ein Bericht aus erster Hand beschreibt die Motivation der Gründungsgestalten.
Ehrlich gesagt: Diese seltsame Mischung aus Anspannung und Vorfreude macht mich langsam schon etwas nervös. Seit ein paar Tagen schwanke ich zwischen Ungewissheit und Aufregung. Warum? Das ist eine ungewöhnliche Geschichte; ich versuche einmal, sie kurz zusammenzufassen.
Mein Freundeskreis
Ich verabrede mich schon seit einiger Zeit regelmäßig mit einigen Freunden aus der unmittelbaren Nachbarschaft, um gemeinsam in der Bibel zu lesen. Wir treffen uns hier in meiner Wohnung am Fitzwilliam Square, die recht geräumig ist. Giff ist mit 32 der Älteste von uns. Er hat in London Jura studiert und ist wie ich bereits verheiratet. Ed, 26 Jahre alt, studiert Medizin. Er wohnt seit ungefähr einem Jahr hier in Dublin und ist, genau wie John, noch Single.
Prägende Figur: John
John ist zwei Jahre älter als ich, nämlich 27. Er hat ebenfalls Jura studiert. Er entwickelt sich langsam zur prägenden Figur unserer Gruppe, finde ich. Er ist noch nicht sehr lange Christ, hat aber schon einmal kurz als Hauptamtlicher in einer Kirche gearbeitet. Er ist nach Dublin gekommen, um eine Knieverletzung behandeln zu lassen, die er sich bei einem Unfall zugezogen hat. Da er ziemlich dünn ist, sich nicht allzu häufig rasiert und außerdem wegen seiner Verletzung zur Zeit nur mit Krücken laufen kann, ist er auch optisch eine wirklich interessante Erscheinung.
Aha-Effekte beim gemeinsamen Bibellesen
Neulich haben wir versucht, auch ein paar Lieder zu singen, das Ergebnis klang aber recht schaurig. Da haben mir meine Nachbarn richtig leidgetan. Hauptsächlich aber beten wir gemeinsam, lesen zusammen Abschnitte aus der Bibel und diskutieren bis spät in die Nacht darüber. Wir haben uns vorgenommen, unser Leben ganz praktisch nach dem Maßstab der Bibel auszurichten. Dazu muss man die Bibel natürlich erst einmal kennen und ihre Zusammenhänge verstehen. Genau daran arbeiten wir gemeinsam. Hier und da haben wir, glaube ich, bereits einige Aspekte ganz neu verstanden. Mir jedenfalls waren einige Gedanken, die wir diskutiert haben, bis jetzt völlig unbekannt.
Besonders John entwickelt häufig interessante Ideen, wenn er über die Bibel nachdenkt (das tut er, so mein Eindruck, fast pausenlos). Manchmal schickt er uns sogar mehrmals in der Woche Nachrichten mit neuen Überlegungen zu schwierigen Bibelstellen. Leider schreibt er meistens ziemlich kompliziert und verschachtelt. John kann übrigens auch recht gut Griechisch und Hebräisch; oft überprüft er sogar unsere englischen Bibeln anhand des Grundtextes. Eigentlich hat er an allen Übersetzungen etwas auszusetzen.
Einmal habe ich ihm im Scherz gesagt, wenn ihm die vorhandenen Übersetzungen nicht genau genug seien, solle er doch selber eine neue Übersetzung machen. Da hat er nur gelacht und gesagt: »Francis, wer weiß!« Ganz unter uns: Zuzutrauen ist es ihm!
Gemeinde nach Gottes Vorstellungen
In der letzten Zeit konzentrierte sich unser Gedankenaustausch fast ausschließlich auf das Thema »Kirche« bzw. »Gemeinde«. Wir haben gemerkt: Wenn man in der Bibel genau hinsieht und dann das, was man dort unter dem Begriff »Gemeinde« findet, mit den Gemeinden um einen herum vergleicht, kommt man in Erklärungsnot. Was Menschen »Kirche« nennen, scheint manchmal kaum noch etwas mit dem zu tun zu haben, was Kirche im Neuen Testament ist. Drei Beispiele:
Tiefe Gräben zwischen den Kirchen?!
Die Mitgliedschaft in der einen Kirche schließt meist die Gemeinschaft bei allen anderen aus. Ed beispielsweise suchte nach seinem Umzug nach Dublin eine Gemeinde, mit der er das Abendmahl feiern konnte. Einige Gemeinden wollten ihm das erst dann gestatten, wenn er offiziell Mitglied bei ihnen würde. Wenn er sich aber nun einer Gruppierung angeschlossen hätte, hätte er nicht mehr zu einer anderen gehen können. In der Bibel lesen wir dagegen, dass alle an Jesus Christus Gläubigen untrennbar zusammengehören, da sie einen gemeinsamen Körper bilden (vgl. Römer 12,5). Wie verträgt sich die Einheit, die Gott schafft, mit der Zersplitterung, die die Menschen verursacht haben?
Ungläubige als Kirchenmitglieder?!
Die Gläubigen werden also leider durch verschiedene Gruppen voneinander getrennt, was nicht richtig ist. Eine andere Abgrenzung, die die Bibel fordert, wird dagegen in manchen Kirchen ignoriert. Nicht selten gehören Menschen, die mit Gott und dem Glauben überhaupt nichts anfangen können oder wollen, dennoch zusammen mit Gläubigen einer Kirche an. Das macht (nimmt man z.B. 2. Korinther 6,14–17 ernst) überhaupt keinen Sinn!
Sonderrechte für Ordinierte?!
Ordinierten Geistlichen werden aufgrund ihres Amtes bestimmte Privilegien eingeräumt; Laien wird z.B. nicht gestattet, Gottes Wort auszulegen oder gar allein das Abendmahl zu feiern. Diese hierarchische Unterscheidung von Priestern und Laien steht unserer Meinung nach im Widerspruch zu Matthäus 23,8 (»Ihr aber, lasst euch nicht Rabbi nennen! Denn einer ist euer Lehrer [Jesus Christus], ihr alle aber seid Brüder«). Als Kinder Gottes stehen wir wie Geschwister alle auf einer Stufe. John behauptet sogar, alle Christen seien automatisch auch Priester (ich muss mir von ihm noch einmal die Bibelstellen zeigen lassen, aus denen er das schließt).
Neue Entdeckungen
Diese und weitere Punkte haben wir in den letzten Wochen durchdiskutiert. Mir war das alles teilweise schon etwas zu theoretisch. Aber dann stieß einer von uns, ich weiß nicht mehr wer, auf einen Vers in Matthäus 18. Dort steht, dass Jesus dort »mitten dabei« ist, wenn zwei oder drei sich in seinem Namen treffen. Da haben wir überlegt, ob wir dieses Versprechen nicht einfach ausprobieren sollten (ich glaube, Tony, ein Freund von Giff, der ab und zu nach Dublin kommt, hatte so etwas Ähnliches sogar schon früher einmal vorgeschlagen). Und wir haben tatsächlich beschlossen, uns am kommenden Sonntag hier in meiner Wohnung zu treffen und Erfahrungen oder Erkenntnisse zusammenzutragen, wie uns 1. Korinther 14,26 auffordert.
Abendmahl im Wohnzimmer
Das wäre soweit noch nichts Neues, das haben wir bisher auch schon gemacht. Zusätzlich aber haben wir uns vorgenommen, zum ersten Mal auch gemeinsam das Abendmahl zu feiern! Ohne offiziellen Gottesdienst, nicht einmal in einer Kirche, sondern bei mir im Wohnzimmer. Uns allen erschien diese Idee zwar etwas gewagt, aber eigentlich schlüssig. Haben wir uns doch vorgenommen, alles, was die Bibel uns sagt, auch wirklich praktisch umzusetzen. Und wenn wir das Neue Testament richtig verstehen, haben Gläubige das Recht, zusammen »das Brot zu brechen«, wie es die Apostelgeschichte ausdrückt.
Schmetterlinge im Bauch
John, Giff, Ed und ich wollen bestimmt keine neue Kirche oder Gruppe gründen. Nein, wir wollen nur als Freunde gemeinsam das Abendmahl feiern, wie Jesus uns auffordert. Das Abendmahl soll uns daran erinnern, dass Jesus Christus für uns gestorben ist; gleichzeitig ist es ein Symbol, dass wir auch als Christen verschiedener Herkunft untrennbar zusammengehören.
An den Gedanken muss ich mich trotzdem noch etwas gewöhnen. Je näher der Sonntag rückt, wird mir doch ein wenig mulmig. Ob wir es wirklich einfach so machen dürfen? So einfach? Ob wir nicht doch etwas falsch verstanden haben? Jetzt könnt ihr vielleicht nachvollziehen, warum ich so nervös bin. Ich bin ziemlich gespannt, wie es am Sonntag weitergeht, und habe richtig »Schmetterlinge im Bauch«. Ich weiß nicht genau, was auf mich zukommt, aber ich freue mich darauf. Sehr sogar.
Eine wahre Geschichte
Weder die Geschichte noch die Personen sind erfunden. Aus dieser ersten gemeinsamen Abendmahlsfeier der vier Freunde, die wahrscheinlich im Jahr 1827 stattfand (oder ein, zwei Jahre später; die historischen Quellen sind hier nicht eindeutig), und aus weiteren Vorläufergruppen entstanden später weltweit so genannte »Brüdergemeinden«. Auch in Dublin wuchs die Gruppe schnell, so dass bald Francis’ Wohnung zu eng wurde und ein Saal angemietet werden musste.
»Francis«, der Gastgeber und Ich-Erzähler, steht übrigens für Francis Hutchinson (1802–1833), »Giff« für John Gifford Bellett (1795–1864), »Ed« für Edward Cronin (1801–1882) und »John« für John Nelson Darby (1800–1882). »John« wirkte später tatsächlich maßgeblich an mehreren Neuübersetzungen der Bibel mit, u. a. an der deutschsprachigen sog. »Elberfelder Übersetzung«. Mit »Tony« ist Anthony Norris Groves (1795–1853) gemeint.
Heutige Situation
Der Artikel verlegt das Zusammentreffen der entscheidenden Figuren der jungen Brüderbewegung – an die historischen Fakten gebunden – erzählerisch in die heutige Zeit. Die aktualisierende Erzählweise soll dabei aber nicht den Eindruck erwecken, die Einschätzung der damaligen Rahmenbedingungen, v. a. die Beschreibung der (frei-)kirchlichen Landschaft, könne unverändert und generalisierend auf die heutige Situation übertragen werden. Im Gegenteil: Wesentliche innovative Elemente, die die erste Generation der Brüderbewegung mutig umsetzte, werden heute auch in anderen (frei-)kirchlichen Gemeinden gelebt.
Quelle:
© ursprüngliche Ausgabe: 2006 bruederbewegung.de
Veröffentlich im Internet unter: http://www.bruederbewegung.de/pdf/muellergemeinde.pdf