Evangelikale in der Krise?
Ist das berechtigt oder kann das weg? Die Kritik der Post-Evangelikalen.
Nachdem die evangelikale Bewegung im 20. Jahrhundert als Erfolgsgeschichte angesehen wurde, bei der weltweit viele Menschen zum Glauben gekommen waren, ist sie in den letzten Jahren vermehrt in die Kritik geraten. Manche sprechen von einer evangelikalen Krise. Was ist Gegenstand der Kritik und wie berechtig ist sie? Ein Überblick.
In Artikeln und Videos ist zunehmend von Post-Evangelikalen oder progressiven Christen die Rede. Obwohl es sich dabei um eine inhomogene Bewegung handelt, überschneiden sich doch einige der Kritikpunkte an der evangelikalen Bewegung. In diesem Artikel geht es darum, welche das sind, wie berechtigt sie sind und wo es bessere Lösungen braucht als die vorgeschlagenen Alternativen.
WAS HEISST DENN ÜBERHAUPT EVANGELIKAL
Das englische Wort evangelical ist zunächst die Übersetzung für evangelisch, woraus dann als Rückübersetzung evangelikal wurde, wobei dieser Begriff mehr umfasst als das deutsche Wort evangelisch. Der Begriff beschreibt eine Glaubensrichtung, die im 20. Jahrhundert wesentlich durch Billy Graham und die Lausanner Bewegung geprägt wurde. Die folgenden vier Merkmale, die hier stark vereinfacht wiedergegeben werden, sind typische Überzeugungen von Evangelikalen:
1) Die Bibel ist Gottes Wort und vertrauenswürdige Grundlage des Glaubens.
2) Der stellvertretende Tod und die Auferstehung von Jesus Christus sind zentral für die Erlösung und den Glauben.
3) Der Glaube an Jesus Christus gestaltet sich als lebendige Beziehung infolge einer persönlichen Bekehrung.
4) Das Evangelium soll mit missionarischem Einsatz weltweit verkündigt werden.
WER SIND DIE POST-EVANGELIKALEN?
Seit den 2010er-Jahren hat nun die post-evangelikale Bewegung im deutschsprachigen Raum zunehmend Gehör gefunden und erfreut sich großer Popularität auf verschiedenen Kanälen in Form von Büchern, Podcasts, Videos und Blogs. Häufig vorkommende Stimmen in dieser Bewegung sind u.a. Siegfried Zimmer, Initiator und Gesicht der WORTHAUS-Mediathek, Thorsten Dietz und Tobias Faix mit ihren Vorträgen, Büchern und ihrem gemeinsamen Podcast, Jakob Friedrichs und Gofi Müller vom Podcast HOSSA TALK und Marko Michalzik, der inzwischen die Nachfolge von Gofi Müller bei HOSSA TALK übernommen hat. Außerdem Martin Benz mit seinem Movecast.
Sie erreichen aufgrund des Internets viele Hörerinnen, Leser und Zuschauer. Die Klick-Zahlen und Kommentarspalten zeigen, dass es vielen so geht wie denen, die öffentlich über ihre Herausforderungen sprechen. Sie alle hinterfragen aus verschiedenen Gründen ihren bisher gewohnten Glauben und trennen sich von bestimmten Gruppierungen und vorigen Überzeugungen. Dabei fallen drei wiederkehrende Motive auf:
1) Einige Menschen sind durch moralische Fragen herausgefordert, z. B. durch die ihnen vermittelte biblische Sexualethik. Oder sie wollen in einer pluralistischen Gesellschaft nicht länger daran festhalten, dass der christliche Glaube exklusiv sei.
2) Andere haben theoretische, intellektuelle Zweifel am Glauben aufgrund von Naturwissenschaften und es fällt ihnen schwer, an Wunder, Inspiration oder etwas Übernatürliches zu glauben.
3) Sehr viele haben in ihrer Biografie schmerzhafte Erfahrungen gemacht, die sie zu verarbeiten und einzusortieren versuchen. Sei es das moralische Versagen eines (bekannten) christlichen Leiters, geistlicher Missbrauch in der Heimatgemeinde, erlebte Ausgrenzung trotz gepredigter Nächstenliebe, unerhörte Gebete in Leidenszeiten oder schwerwiegende Diagnosen bei geliebten Menschen.
WAS KRITISIEREN SIE AN DER EVANGELIKALEN BEWEGUNG?
Ein sich wiederholender Kritikpunkt ist die empfundene gedankliche Enge in evangelikalen Gemeinschaften. Es gebe zu wenig Raum für Zweifel, für Fragen, für Andersartigkeit und wirklich ehrliche Gemeinschaft. Gofi Müller erklärt in seinem Buch Flucht aus Evangelikalien (2017), warum sie in ihrem Podcast HOSSA TALK kein Blatt vor den Mund nehmen: „Wir haben uns vorgenommen, unsere Zweifel, Fragen und Überzeugungen ungefiltert auszusprechen. Warum? Weil wir die Erfahrung machen, dass man das in vielen christlichen Gemeinschaften nicht darf.“1
Zu plumpe Antworten auf hochkomplexe Fragen unserer chaotischen Welt – so könnte man einen weiteren Kritikpunkt zusammenfassen, der nicht ganz unberechtigt scheint. Ein simples „Das musst du einfach glauben“ hilft der betroffenen Person in ihren Spannungen und Unsicherheiten dabei oft nicht weiter.
Bemängelt wird außerdem, dass viele evangelikale Gemeinschaften zwar signalisieren, sie hätten die Frohe Botschaft verstanden und würden Jesus sogar ernster nehmen als andere, aber letztlich doch oft als hartherzig, verurteilend und unbarmherzig gegenüber Andersdenken erlebt werden. Es wird gepredigt über Gnade, Barmherzigkeit und Nächstenliebe, und doch – so die Wahrnehmung – gebe es einen unausgesprochenen Moral- und Verhaltenskatalog, den man besser nicht verletzen solle.
Und schließlich vermissen viele den Sinn für Kunst und Ästhetik und beklagen einen mangelnden Einsatz für soziale Gerechtigkeit gerade von denen, die an einen Gott glauben, dem die Armen und Unterdrückten schon immer am Herzen liegen und der jeden Menschen wunderbar geschaffen hat.
WAS BLEIBT NOCH STEHEN?
Allerdings ist es bei dieser vielfältigen Kritik und der Menge an Stimmen sehr wichtig, präzise hinzuhören und wenigstens zwei Strömungen zu unterscheiden. Bildhaft gesprochen gibt es, wie bei der Kernsanierung eines alten Hauses, diejenigen, die den Wert des Hauses erkennen und nun einiges austauschen und sogar die ein oder andere nicht-tragende Wand herausreißen wollen. Dazu gehört manche angemessene Kritik an einigen evangelikalen Gemeinschaften und dem, wenn man es so nennen will, evangelikalen „System“. Daneben gibt es unter Post- und Ex-Evangelikalen auch noch die radikalen Stimmen, die bei der Kernsanierung des alten Hauses auch vor tragenden Wänden und sogar dem Fundament nicht haltmachen. Wesentliche Glaubenslehren werden umdefiniert, neu interpretiert oder ganz abgelehnt. Die Bibel wird dann vorwiegend nur noch als menschliches Buch angesehen, das fehlerhaft ist und sich vor den Menschen und ihrer Vernunft behaupten muss. Es ist höchstens so inspiriert wie ein Gedicht, ein Lied oder sonstige Kunst. Viele der Texte und Berichte werden als unhistorisch eingestuft. Die Jungfrauengeburt könne so nicht passiert sein. Jesus sei vor allem ein Mensch gewesen, der für Liebe, Frieden und Freiheit eingetreten sei. Sein Tod sei kein Sühnetod für uns und auch die Auferstehung sei wohl kaum historisch passiert. Was bei dieser extremeren Version des Post-Evangelikalismus häufig noch bleibt, ist eine Rest-Spiritualität, eine unbiblisch definierte Freiheit und ein allgemeiner Gottesglaube, in dem aber wenig Platz ist für Jesus Christus und seine durchaus provokanten Lehren.
AUFGABEN FÜR DIE ZUKUNFT – EIN FAZIT
Was nun? Einige Anregungen und Schlussfolgerungen. Ich glaube, es ist dran, manche der kritischen Stimmen ernst zu nehmen und zunächst empathisch zuzuhören. Es ist gut, ehrlich in den Spiegel zu schauen und zu einer Jesus-gemäßen „Dekonstruktion“ des eigenen Glaubens und der eigenen Glaubensgemeinschaft zu gelangen.
Wir sollten unsere Gemeinden zu Orten des vertrauensvollen Umgangs machen, in denen man zunächst offen über alles sprechen darf. Nach biblischem Vorbild (z. B. der ungläubige Thomas; Joh 20; Judas 22) muss es möglich sein, Zweifel zu äußern, ohne Angst haben zu müssen, dafür ausgegrenzt zu werden. Wir brauchen mehr Raum für Fragen, für Zweifel und für Unbeantwortetes.
Und wir müssen die Komplexität unserer heutigen Zeit und unserer vielfältigen Kultur ernstnehmen. Es braucht in Predigten, Bibelabenden und Hauskreisen nicht immer einfache Antworten, sondern im Gegenteil: Wir benötigen tiefgründige Theologie und komplexe Antworten auf komplexe Fragen. Jesus war nicht nur der Retter, sondern auch die brillanteste Person, die je gelebt hat. Wir sollten zeigen, wie er in jeden Bereich unseres Lebens und der Gesellschaft mit Mitgefühl, Liebe und Gnade hineinspricht2 und warum seine Lehre die bessere Alternative zu allem anderen ist.
Schließlich sollte eine Bewegung, die das Evangelium bereits in ihrem Namen trägt, nicht bekannt sein für Ausgrenzung, Hartherzigkeit und einen unsichtbaren Verhaltenskodex. Wir wollen bekannt sein für das gelebte Evangelium, für großzügige Taten der Nächstenliebe, für Vergebung und für vierte, fünfte und sechste Chancen.
Trotz manch berechtigter Kritik der Post-Evangelikalen hinterfrage ich, welche Frucht am Ende der Dekonstruktion bzw. aus einem post-evangelikalen Glauben entsteht: „Werde ich durch meine Dekonstruktion Jesus ähnlicher? Werde ich zum Beispiel großzügiger, hoffnungsvoller, missionarischer, mitfühlender und barmherziger? Oder bin ich dabei, hoffnungslos und zynisch zu werden?“3 Denn die traurige Wahrheit ist, dass zu viele nach ihrer De-konstruktion keine positive Re-konstruktion erleben. Auch wenn es dazu bisher keine empirischen Zahlen gibt, so kommen doch mehrere Pastoren und Autoren übereinstimmend zu dem Ergebnis, dass es nicht wenige sind, die nach einiger Zeit ihren christlichen Glauben ganz aufgeben und zu Post-Christen werden. Für sie führt De-konstruktion zu De-konversion und leider nicht zu Re-formation.
Der Amerikaner Ian Harber hingegen dekonstruierte zunächst den evangelikalen Glauben seiner Jugend und wurde Teil einer Gemeinschaft progressiver Christen. Als er erkannte, was für eine oberflächliche und dürftige Alternative dies für ihn war, rekonstruierte er seinen ursprünglichen Glauben mit neuer theologischer Tiefe. Sein Fazit nach dieser Erfahrung: „Es wäre töricht, die angemessene Kritik, die progressive Christen an bestimmten evangelikalen Kirchen üben, abzutun. Aber es wäre ebenso töricht, ihre Lösungen zu übernehmen. Stattdessen sollten wir versuchen, unsere Herzen und unsere Kirchen so zu reformieren, dass sie mehr wie Jesus Christus sind. Und das geschieht durch den überlieferten historischen Glauben, nicht gegen ihn.“4
Quellen:
1. Müller, Gofi (2017). Flucht aus Evangelikalien. Books on Demand, S.91.
2. Harber, Ian (03 - 2020): ‘Progressive’ Christianity: Even Shallower Than the Evangelical Faith I Left, TGC, (online) https://www.thegospelcoalition.org/article/progressive-christianity-shallower-evangelical-faith-i-left/ (abgerufen am 19.01.2023; übersetzt von deepl.com).
3. So formulierten es meine Kollegen Cedric Grossmann und Benjamin Carstens im Leitartikel der vorherigen Ausgabe der Offenen Türen (1/23).
4. Harber, Ian (10 – 2020): How Progressive Christianity Preaches Another Gospel: Review: ‘Another Gospel?’ by Alisa Childers, TGC, (online) https://www.thegospelcoalition.org/reviews/another-gospel-progressive-christianity-alisa-childers/ (abgerufen am 19.01.2023; übersetzt von deepl.com).
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