Einheit & Reinheit - Ein Diskussionsbeitrag
„Einheit führt zur Erweckung“ vs. „Einheit ist Zeichen der Endzeit“
Derzeit erlebe ich einen großen Wunsch nach Einheit. Viele Christen können die Aufsplitterung in unzählige Gruppierungen nicht mehr ertragen.
Gerade in der jüngeren Generation herrscht ein Unverständnis über Grüppchenbildung und Abgrenzung. Aufgewachsen in einer pluralistischen Gesellschaft sind ihnen die Geschichte und die traditionelle Verankerung der Gemeinderichtungen relativ gleichgültig. Fakten stehen hinter Gefühlen, dadurch wird die Diskussion vermieden. Sie identifizieren sich nicht mehr vollständig mit etwas, sondern suchen sich die hilfreichen Dinge heraus. Weil sie kein Interesse am Konflikt haben, meiden sie Streitthemen. Sie sehen den Nutzen nicht in der Distanzierung, sondern in den Gemeinsamkeiten. Deswegen sind sie lieber „für etwas“, als „gegen etwas“.
Aber es herrscht nicht nur ein Unverständnis für Abgrenzung. Von vielen Personen wird in die Einheit der Christen auch eine große Hoffnung gesetzt. Komprimiert lautet die Überzeugung: wenn wir mehr Einheit leben, dann geschieht Erweckung. Denn Jesus betet ja, dass die Welt glaubt, dass sein Vater ihn gesandt hat, wenn die Christen eins sind. (vgl. Johannes 17, 21)
Gleichzeitig erlebe ich bei anderen Christen einen wachsenden Ruf nach Abgrenzung. Von ihnen wird betont, dass wir gesunde Lehre brauchen, uns von falschen Tendenzen abgrenzen und klare Positionen verteidigen müssen. Das ist besonders wichtig, weil „viele falsche Propheten (…) aufstehen und (…) viele verführen“ (Matthäus 24, 11) werden. Die Hure Babylon in Offenbarung 17 wird zum Beispiel als Welteinheitskirche verstanden. Einheit wird daher eher als Bedrohung beschrieben – als Zeichen der Endzeit.
Persönlich leide ich darunter, dass sich so viele Christen trennen, streiten, spalten – obwohl sie ein Leib sind. Ich leide unter Hochmut, der selbst bei Jugendlichen schon dazu führt, auf Christen anderer Prägung herabzusehen. Ich leide darunter, stumpfe Kommentare auf Social Media zu lesen, die Charakterzüge offenbaren, die nichts mehr mit christlichem Verhalten zu tun haben. Ich leide unter der Lieblosigkeit. Ich sehne mich nach Einheit und einem liebevollen Umgang miteinander.
Und gleichzeitig traue ich manchmal meinen Augen nicht, wenn ich sehe, wie Einheit (scheinbar) ohne theologische Basis gelebt wird. Fundamentale Unterschiede werden nebeneinander stehengelassen. Und ich frage mich: wie bitte soll diese Einheit funktionieren? Ich sehne mich nach Reinheit – nach Übereinstimmung in gesunder Lehre.
Zwei biblische Ideale: Einheit & Reinheit
Schon in der Bibel wird diese Spannung sichtbar. Kurz vor seinem Tod spricht Jesus mit seinem Vater und bittet ihn, „damit sie alle eins seien, wie du, Vater, in mir und ich in dir, dass auch sie in uns eins seien, damit die Welt glaube, dass du mich gesandt hast“ (Johannes 17,21). Jesus bittet seinen Vater um Einheit seiner Nachfolger. Er vergleicht die Einheit mit der Einheit, die er mit seinem Vater hat. Und er zeigt ein Ziel dieser Einheit auf: die Welt glaubt dann, dass Gott Jesus gesandt hat.
Im gleichen Gebet bringt Jesus noch einen Wunsch zum Ausdruck: „Heilige sie durch die Wahrheit! Dein Wort ist Wahrheit.“ (Johannes 17,17) Jesus geht es „nicht nur“ um Einheit, sondern auch um Wahrheit.
Paulus findet sehr klare Worte dafür, dass man sich von Menschen abwenden soll, die andere Lehre bringen:
„Ich ermahne euch aber, Brüder, dass ihr achthabt auf die, welche entgegen der Lehre, die ihr gelernt habt, Zwistigkeiten und Ärgernisse anrichten, und wendet euch von ihnen ab!“Römer 16,17
In der Bibel sehen wir sowohl das Gebet um Einheit als auch den Ruf zum Abwenden von Menschen mit falschen Überzeugungen.
Exkurs: Einheit und Absonderung in der Brüderbewegung
Von der Brüderbewegung bin ich geprägt und in ihr verortet. Diese Bewegung ist im 19. Jahrhundert entstanden aus dem Wunsch nach Einheit: „Die in Christi Blut begründete und durch Gottes Geist bewirkte Einheit aller Gläubigen, gleichgültig, zu welcher Benennung sie gehören, wird sehr stark betont. Ich glaube sagen zu dürfen, dass die Verkündigung dieser biblischen Wahrheit der Hauptauftrag der »Brüder« war.“ (Kurt Karrenberg – Der Freie Brüderkreis, S. 10)
Binnen weniger Jahre hat sich diese Bewegung, die mit dem gemeinsamen Abendmahl die Einheit des Leibes zum Ausdruck bringen wollte, in weiten Teilen zu einer stark abgrenzenden Bewegung entwickelt. „Am Ende ist es nicht möglich, dem Vorwurf zu entgehen, der mit Gottes Erlaubnis gegen uns alle erhoben wird: nicht etwa dem Vorwurf, dass es hier und da einige örtliche Spaltungen gibt, sondern dass es von vorne bis hinten nichts als Trennungen gibt. Dabei spreche ich nicht von Trennungen, wo eine Absonderung vom offenkundigen Bösen eine göttliche Notwendigkeit gewesen wäre, sondern wo eine Spaltung aufgrund von Punkten der Versammlungszucht oder der Lehre durchgeführt wurde. Und diese Punkte sind zugegebenermaßen keineswegs fundamental, sondern tatsächlich zu unbedeutend, um selbst der engstirnigsten und sektiererischsten Sekte um uns herum als Grundlage für eine Spaltung zu dienen!“ (Henry Allen Ironside, Die Brüderbewegung, S. 191)
Durch das Verbot der Christlichen Versammlungen 1937 hat sich interessanter Weise eine besondere Dynamik der Einheit entwickelt: „Während wir früher in der „Versammlung“ glaubten, uns mehr oder weniger streng abschließen zu sollen gegen andere christliche Kreise, sind wir heute im „B.f.C.“ der Überzeugung, dass gerade wir berufen sind, der Erkenntnis von der göttlichen Wahrheit des e i n e n Leibes zum praktischen Durchbruch zu verhelfen.“ (VdB, S. 33, Dr. Becker, Hugo Hartnack, Dr. Richter) In dieser Zeit wurde die Brüderbewegung zum treibenden Motor der Einheit im freikirchlichen Bereich.
Wenn ich an die Geschichte der Brüderbewegung denke, dann denke ich auch an eine starke Pendelbewegung zwischen dem Wunsch nach Einheit und der Abgrenzung aus Lehrfragen.
Einheit & Reinheit: A tension to manage – not a problem to solve
Wir erleben heute, wir sehen in der Bibel und merken an der Geschichte der Brüderbewegung: Einheit der Christen und Übereinstimmung in Lehrfragen – das ist ein Spannungsfeld!
„Is this a problem to solve or a tension to manage?” Ist das ein Problem, das wir lösen können – oder eine Spannung, durch die wir weise leiten müssen. Diese beiden Arten, mit Herausforderungen umzugehen, habe ich bei Andy Stanley, einem amerikanischen Pastor, kennengerlernt.
Der Gedanke ist: Es gibt Probleme, die wir lösen können. Mein Auto hat Kühlflüssigkeit verloren. In der Werkstatt wurde festgestellt, dass die Wasserpumpe undicht ist. Sie wurde ausgetauscht. Problem gelöst. Es gibt auch Probleme, die wir in geistlichen Fragen lösen können. In der Gemeinde kommt die Frage auf: Sagt die Bibel, dass Jesus Gottes Sohn ist? Das Problem kann man lösen, indem man gemeinsam in der Bibel studiert.
Aber es gibt auch Herausforderungen, die wir nicht lösen können. Es ist wichtig, Zeit zu investieren in die Familie, in den Beruf, in die Gemeinde, in die Beziehung zu Gott, in die körperliche Fitness, in … Wie soll ich meine Zeit am Besten investieren? Das ist kein Problem, das ich einmalig lösen kann, sondern eine Spannung, die ich permanent managen muss.
Es gibt den Versuch von Christen, das Problem von Einheit und Reinheit zu lösen. Manche Christen grenzen sich von allen ab, die nicht zu einem sehr hohen Anteil mit ihren Überzeugungen übereinstimmen. Meine Beobachtung ist, dass die Folge davon immer weitere Trennungen zwischen echten Christen sind – und damit Einheit nicht mehr praktisch gelebt wird.
Die Herausforderung, vor der wir stehen ist, dass echte Christen auch bei wichtigen Glaubensthemen unterschiedliche Positionen haben. William MacDonald hat ein Stufenmodell entworfen, das ich sehr hilfreich finde. Dabei unterteilt er Lehren in die Kategorien grundlegend, wichtig und nebensächlich.
Unterschiede bei grundlegenden Fragen sind Probleme, die gelöst werden müssen. Ich bin überzeugt: nach einem gründlichen Schriftstudium ist es keine Frage mehr, ob Jesus stellvertretend für unsere Sünden gestorben ist. Bei grundlegenden Themen gibt es eindeutige Positionen.
Bei wichtigen Glaubensthemen wie der Unverlierbarkeit des Heils haben gottesfürchtige Christen unterschiedliche Auffassungen. Und bei nebensächlichen Themen wie bei der Benutzung von Musikinstrumenten im Gottesdienst erst recht. Das Problem der unterschiedlichen Überzeugungen können wir nicht lösen. Die Frage ist, wie wir mit dieser Spannung umgehen. Wie können wir Einheit leben, obwohl wir unterschiedliche Überzeugungen haben?
Diese Frage können wir nicht pauschal beantworten. Zu unterschiedliche sind manche Positionen unter wiedergeborenen Christen und zu wichtig ist Jesus sowohl die Einheit des Leibes als auch die Reinheit der Lehre. Das ist kein Problem, das sich einfach lösen lässt.
Wir leben in einem Spannungsfeld.
Es nicht einfach, es macht Mühe, sich in diesem Spannungsfeld zu bewegen. Wahrscheinlich schreibt der Apostel Paulus deshalb:
„Bemüht euch sehr darum, die Einheit, die der Geist Gottes gewirkt hat, im Verbund des Friedens zu bewahren. Ihr seid ja ein Leib; in euch lebt der eine Geist; und ihr habt die eine Hoffnung bei eurer Berufung bekommen. Ihr habt nur einen Herrn, einen Glauben, eine Taufe. Und über allen ist der eine Gott, der Vater von allen, der durch alle und in allen wirkt.”
Einheit zu leben macht Mühe. Sie benötigt unseren Fleißeinsatz, weil sie so wertvoll und so sensibel ist. Sie hält nicht von alleine, sondern dort wo Christen einander bewusst und aktiv in Liebe begegnen.
Die Mühe um Einheit beschreibt Paulus als eine der ersten, wichtigsten Auswirkungen von einem „würdigen Wandel“ (V.1). Einheit ist kein Anhängsel, keine Option, sondern eine Priorität im Leben von Christen.
Wie kann diese Mühe praktisch gelebt werden? Wie gehen wir heute mit der Spannung zwischen Einheit des Leibes und der Reinheit der Lehre um?
Exkurs zum Stufenmodell von William MacDonald
Grundlegend
„Über diese Lehren kann man nicht verhandeln. Wir sollen sie ernsthaft verteidigen. Sie werden ausdrücklich in der Schrift gelehrt. Sie sind von christlichen Gemeinden in allen Jahrhunderten anerkannt worden. Alle diesen entgegenstehenden Lehren sind als Irrlehren gebrandmarkt worden. Die Gläubigen waren bereit, für diese kostbaren Wahrheiten zu sterben. Hier gibt es keine Kompromisse. Wir können keine Gemeinschaft mit Menschen haben, die diese Grundlagen leugnen.“
Als Beispiele nennt er: Die Inspiration der Schrift. Die Dreieinigkeit. Die Menschwerdung Jesu. Sein stellvertretender Tod am Kreuz. Das Evangelium. Die Wiederkunft. Die ewige Strafe für die Verlorenen.
Wichtig
„Zu diesen Themen gehören Taufe, Scheidung und Wiederheirat, die Reihenfolge der zukünftigen Ereignisse, Unverlierbarkeit des Heils, Kopfbedeckung der Frau, der öffentliche Dienst der Frau in der Gemeinde, die Gaben des Geistes und die Themen, die in den fünf Punkten des Calvinismus angesprochen werden.
Das Problem ist, dass Christen verschiedene Ansichten über diese Themen vertreten. Es gibt zwar nur eine richtige Auslegung zu jedem dieser Themen, aber nicht alle Gläubigen sind sich einig, welche dies ist. Große und gottesfürchtige Christen sind hier unterschiedlicher Meinung.“
Nebensächlich
„Neben den erwähnten wichtigen Themen gibt es einige, die klar als nebensächlich eingeordnet werden können. Bei diesen Punkten sollte immer die Freiheit bestehen, verschiedene Meinungen nebeneinander stehen zu lassen, ohne zu streiten oder sich gar zu trennen. Hier trifft der zweite Teil unseres Mottos zu: Im Grundlegenden Einheit, in Nebensächlichkeiten Freiheit, in allem aber die Liebe.
Unter die nebensächlichen Dinge fallen einige, über die das Neue Testament nichts Bestimmtes anordnet. Manche Leute denken aber, dass es dabei um wichtige Prinzipien geht: Wahl und Militärdienst, Wein oder Traubensaft beim Abendmahl, ein Kelch oder einzelne Kelche und die Benutzung von Musikinstrumenten im Gottesdienst.“
Wie leben wir Einheit & Reinheit: 4 Mühen
Paulus fordert uns auf, uns um die Einheit zu bemühen. Aus meiner Sicht sind deshalb folgende vier Mühen notwendig:
Wir bemühen uns…
1. …die Einheit als Realität und Ideal wahrzunehmen
2. …die Einheit umso stärker zum Ausdruck zu bringen, je mehr wir in Lehrfragen übereinstimmen
3. …die Einheit der Christen vor unnötigen Spaltungen zu schützen
4. …die Einheit vor falschen Lehren und Propheten zu schützen
1. …die Einheit als Realität und Ideal wahrzunehmen
In Epheser 4, 3 macht Paulus sehr komprimiert deutlich, was Einheit ist.
Einheit ist zum einen eine Realität. Alle Wiedergeborenen sind durch den Geist Gottes verbunden. Christen sind ein Leib, verbunden durch den einen Geist. Diese Einheit können wir nicht zerstören. Diese Wahrheit müssen wir uns immer wieder bewusst vor Augen halten.
Der Geist hat diese Einheit gewirkt – und es ist unsere Aufgabe, sie zu bewahren. Einheit ist gleichzeitig Realität und anzustrebendes Ideal. Wenn ich die Bibel richtig verstehe, werden wir diesen Idealzustand in der gefallenen Schöpfung nicht dauerhaft erreichen. Aber das entbindet uns nicht von der Aufgabe, nach diesem Ideal zu streben.
Diese Einheit zu bewahren hat ganz unterschiedliche Dimensionen. Es geht aus meiner Sicht nicht darum, immer gleicher Meinung zu sein. Einheit bedeutet zum Beispiel, bei grundlegenden Themen Übereinstimmung zu haben und zu lernen, wie man mit unterschiedlichen Ansichten bei wichtigen und nebensächlichen Themen umgehen kann. In der Gemeinde kann das zum Beispiel bedeuten, dass sich die Leitungsverantwortlichen in einer Gemeinde auf eine gemeinsame Linie bei diesen Themen einigen. Bei der Zusammenarbeit zwischen Gemeinden gilt es zu überlegen, in welchem Rahmen eine Zusammenarbeit trotz unterschiedlicher Positionen möglich ist.
2. …die Einheit umso stärker zum Ausdruck zu bringen, je mehr wir in Lehrfragen übereinstimmen
Wenn Einheit (geistliche) Realität und Gottes Idealvorstellung ist, dann muss sie auch im praktischen Zusammenleben zum Ausdruck kommen.
Je größer die Übereinstimmung in Lehrfragen ist, desto enger können wir die Zusammenarbeit gestalten! Als Orientierungspunkt kann das Stufenmodell von Mac Donald dienen. Bei grundlegenden Unterschieden sollten wir keine Zusammenarbeit suchen. Aber je stärker wir in wichtigen und nebensächlichen Bereichen übereinstimmen, desto stärker sollten wir das Miteinander suchen.
Dafür ist natürlich wichtig zu klären, was für uns grundlegende, wichtige und nebensächliche Lehren sind und wie wir jeweils mit Unterschieden umgehen. Denn es gibt so viele konfessionelle Unterschiede und ethische Positionen. Da ist es nicht leicht, den Überblick zu behalten und sich zu positionieren. Aber nur, wenn wir die Mühe auf uns nehmen, können wir selber klare Positionen formulieren, zur Reinheit der Lehre beitragen und für die Einheit einstehen.
Dabei sollten wir uns auch die Mühe machen, anderen Christen in echter Offenheit zu begegnen. Das hilft uns zu verstehen, was ihre Positionen wirklich sind. Ich erlebe so viele Vorurteile, Fehlurteile und falsche Unterstellungen. Wir tun gut daran, uns diesen Spruch zu Herzen zu nehmen: „Wer Antwort gibt, bevor er zuhört, / ist dumm und macht sich lächerlich.“ (Sprüche 18, 13)
Wenn wir eigene Positionen entwickeln und uns mit anderen Christen fair auseinandersetzen, dann können wir erleben, dass wir durch die Gemeinschaft der Christen bereichert werden. Paulus gebraucht in 1. Korinther 12 das Bild des Körpers. Der Körper ist eine Einheit.
„Denn er wollte keine Spaltung im Körper. Alle Glieder sollen einträchtig füreinander sorgen. Wenn ein Glied leidet, leiden alle anderen mit; und wenn eins besonders geehrt wird, freuen sich die anderen mit. Zusammen seid ihr der Leib von Christus und einzeln genommen Glieder davon.“1. Korinther 12, 25-27
Alle Glieder werden gebraucht. Sie ergänzen einander.
3. …die Einheit der Christen vor unnötigen Spaltungen zu schützen
Wenn ich mich von meinen Glaubensgeschwistern unnötigerweise abgrenze, dann stelle ich mich gegen Gottes Realität und Idealvorstellung. Ich glaube, dass Paulus aus diesem Grund sehr deutliche Worte gegen Menschen richtet, die unnötige Spaltungen in Gemeinden bringen. Er schreibt an Titus:
„Beteilige dich dagegen nicht an törichten Streitfragen, Diskussionen über Geschlechtsregister und Auseinandersetzungen über das jüdische Gesetz. Das ist nutzlos und führt zu nichts. Einen Menschen, der Spaltungen in die Gemeinde trägt, verwarne einmal und noch ein zweites Mal. Dann weise ihn ab, denn du weißt ja, dass so einer ganz verdreht ist und sündigt. Damit spricht er sich selbst das Urteil.“Titus 3,9-11
Was sind törichte Streitfragen? Was meint Paulus mit Auseinandersetzungen über das jüdische Gesetz? Diese Fragen sind schwierig zu beantworten. Auf jeden Fall ist es eine ernste Warnung, zu prüfen, ob die Lehre, für die man eintritt, eine törichte Streitfrage ist.
Mit Bezug auf das Stufenmodell von MacDonald kann als Richtschnur gelten: wenn nebensächliche wie grundlegende Themen behandelt werden, dann können Unterschiede zu unnötigen Spaltungen führen.
4. …die Einheit vor falschen Lehren und Propheten zu schützen
In den Briefen des Neuen Testaments wird an verschiedenen Stellen vor falschen Lehrern gewarnt. Falsche Lehre wie die Lehre der Pharisäer und Sadduzäer (vgl. Matthäus 16,5-12) oder ein falscher Lebensstil wie ein schlimmer Fall von Unzucht (vgl. 1. Korinther 5,1-7) kann alles verderben – wie Sauerteig, der den ganzen Teig durchsäuert. Es ist klar: wir sollen weder falsche Lehre noch einen falschen Lebensstil übernehmen oder in unserem Verantwortungsbereich zulassen.
Exkurs: 4 Gruppen von falschen Lehren
Ich habe 4 Gruppen von falschen Lehren im Neuen Testament entdeckt: Falsche Freiheit, falsche Enge, falsche Wunder und falsche Vorstellung vom Messias.
Judas warnt vor Menschen, die eine falsche Freiheit lehren: „Sie missbrauchen die Gnade Gottes, um ein zügelloses Leben zu führen, und verleugnen damit Jesus Christus, unseren einzigen Herrscher und Herrn.“ (Judas 1,4) In seinem 2. Brief beschreibt Petrus diese Lehre. Sie ist geprägt von einem zügellosen Lebensstil, Habgier, schmutzigen Begierden. „Sie versprechen ihnen Freiheit und sind doch selbst Sklaven ihrer moralischen Verkommenheit.“ (2. Petrus 2,19) Zusammengefasst könnte man ihre Lehre beschreiben: „Weil Christus dir deine Sünden vergeben hat, kannst du jetzt tun, was du willst.“ Diese Lehre vergisst, dass Christus zum Herrn über das Leben wird.
Paulus warnt auch vor Lehrern, die eine falsche Enge fordern. Sie schaffen Verbote, die über die Lehre des neuen Bundes hinausgehen – wie zum Beispiel Heirats- und Speiseverbote (vgl. 1. Timotheus 4,3). In seinem Brief an die Kolosser warnt Paulus, dass sie sich nicht nach den Geboten und Lehren von Menschen richten sollen, die zusätzliche Regeln erschaffen. Er beurteilt dies mit folgenden Worten: „Solche Regeln sind nichts als menschliche Vorschriften für Dinge, die doch nur dazu da sind, um von uns benutzt und verbraucht zu werden. Es sieht zwar so aus, als ob solche eigenwilligen Gottesdienste, Demutsübungen und Misshandlungen des Körpers Zeichen besonderer Weisheit seien. Aber in Wirklichkeit haben sie keinen Wert, sondern befriedigen nur das menschliche Geltungsbedürfnis.“ (Kolosser 2,22-23) Es werden zusätzliche Grenzen errichtet, die eingehalten werden müssen, um wirklich fromm zu sein.
Jesus selbst warnt davor, dass „falsche Messiasse und falsche Propheten auftreten [werden]. Sie werden sich durch große Zeichen und Wundertaten ausweisen und würden sogar die Auserwählten verführen, wenn sie es könnten.“ (Matthäus 24,24) Er warnt vor falschen Wundern. Zeichen und Wunder sind nicht automatisch ein Zeichen davon, dass Gott am Werk ist.
Johannes warnt vor Menschen, die nicht bekennen, dass „Jesus Christus, im Fleisch gekommen“ ist (1. Johannes 4, 2). Wenn Menschen ablehnen, dass Jesus Christus menschgewordener Gott ist oder andere zentrale Glaubensinhalte wie die Auferstehung ablehnen, dann haben sie eine falsche Vorstellung vom Messias – und solchen falschen Propheten sollen wir nicht glauben.
Und jetzt ist klar, wie wir Einheit leben sollen?
Leider nein! Zumindest für mich noch nicht. Wir brauchen Weisheit, wie wir das Spannungsfeld von Einheit und Reinheit in unserer konkreten Lebenssituation gestalten. Wir brauchen Gebet. Wir brauchen den Austausch mit anderen Christen, um zu verhindern, dass wir uns selbstgefällig ein Lehrgebäude zusammenschustern. Wir brauchen klare Überzeugungen. Wir müssen immer wieder die Bibel öffnen und so gut es uns möglich ist versuchen, die Beeinflussung durch Tradition, Gesellschaft und persönlicher Prägung zu reflektieren. Und damit müssen wir schauen, mit wem wir wie zusammenarbeiten.
Diese Spannung zu leben macht Mühe. Nur durch diese Mühe verhindern wir, dass wir einseitig werden. Wenn wir nur die Einheit des Leibes oder die Reinheit der Lehre betonen, dann werden wir auf einer Seite vom Pferd fallen. Wenn wir lernen, uns möglichst gut in diesem Spannungsfeld zu bewegen, dann lernen wir, uns vor der Gefahr falscher Einflüsse zu schützen und erleben die Bereicherung durch Vielfalt. Möge Gott uns dabei helfen.