Eine Frage der Balance
Warum Wort und Tat zusammengehören und wie das in der Praxis aussehen kann.
Wer schon einmal geritten ist weiß, dass das am Anfang eine unsichere Angelegenheit ist. Wer als Anfänger im vollen Galopp auf dem Gaul sitzt und keine Ahnung hat, wo die Bremse ist, versucht verzweifelt, irgendwie oben zu bleiben… und dennoch schwankt man gefährlich mal nach rechts und mal nach links. Ähnlich scheint es uns zu gehen, wenn wir an die beiden Paare „Wort und Tat“, „Diakonie und Evangelisation“ denken. Immer wieder neigen christliche Gruppen und Strömungen dazu, entweder die Diakonie – also die praktische Unterstützung von bedürftigen Menschen – oder die Evangelisation – die gute Botschaft von Jesus – zu Lasten des jeweils anderen Wertes zu betonen. Wie das Reiten eine Sache der Balance ist, brauchen wir auch in dieser Frage Ausgewogenheit, um den einen Wert nicht gegen den anderen auszuspielen.
Die Betonung des Wortes
Menschen, die Wortverkündigung und Evangelisation für das Non plus Ultra halten, argumentieren richtigerweise, dass der Glaube aus der Predigt kommt (Römer 10,17). Aber was passiert, wenn wir bei Evangelisationen Menschen begegnen, die „mehr“ brauchen als die Hinwendung an Jesus? Leider ist die christliche Gemeinde in vielen Fällen eine Einrichtung für die etablierte Mittelschicht geworden. Manche bringen neben ihrem Interesse am Glauben, an den sie sich wie an einen Strohhalm klammern, eine Reihe „handfester“ Probleme mit: Schulden, Alkohol- oder Drogenprobleme, das Gefühl der Einsamkeit, Depressionen. Wenn wir ihnen nichts weiter anbieten als: „Komm zu Jesus und alles wird gut!“ oder „Komm in die Gemeinde und funktioniere!“, dann wird genau das eben nicht funktionieren und diese Leute werden sich vermutlich enttäuscht wieder abwenden. Leider ist die christliche Gemeinde in vielen Fällen eine Einrichtung für die etablierte Mittelschicht geworden. Deshalb erlaube ich mir die provokative Frage:
Die Betonung der Taten
Andererseits kann man in den letzten Jahren in unseren Kreisen durchaus den Trend hin zu vermehrter sozialer Aktivität beobachten, mitunter verbunden mit einer merkwürdigen Sprachlosigkeit bei der Weitergabe des Glaubens. Vielleicht aus Angst, dem anderen etwas überzustülpen oder ihn zu verärgern, schweigen wir vornehm, wenn es um unseren Glauben geht. Aber anders als sozialen Vereinen sollte es uns Christen um mehr als Hilfestellung für dieses Leben gehen. Immerhin kennen wir die Kritik: Die Christen würden die Notlage bedürftiger Menschen ausnutzen, sie mit ihren sozialen Ange-boten „ködern“ und für ihre Sache überreden. Das ist in der Vergangenheit tatsächlich passiert und definitiv verkehrt. Aber deswegen zu schweigen, wenn es um die Weitergabe unseres Glaubens geht, ist ebenso falsch. Denn das kann dazu führen, dass wir als „sozialer Verein“ angesehen werden wie es viele andere gibt. Auch Nichtchristen kümmern sich um Bedürftige, und das zum Teil professioneller und selbstloser als wir Christen. Aber anders als sozialen Vereinen sollte es uns Christen um mehr als Hilfestellung für dieses Leben gehen.
Und diese Botschaft ist kein Druck- oder Drohmittel sondern eine Einladung, ein Angebot. Und Einladungen kann man ja bekanntlich ablehnen.
Vorbilder für Balance
Bereits die Urgemeinde in Jerusalem richtete nach Apostelgeschichte 6 eine „Suppenküche für Bedürftige“ ein (wahrscheinlich ausschließlich für Gläubige). Dies verursachte einige Probleme, was aber nicht zu einer Einstellung der „sozialen Aktion“ sondern zu einer neuen Aufgabenverteilung führte. Die Apostel betonten damals, dass die Verkündigung von Gottes Wort ihre wichtigste Aufgabe war, gleichzeitig legten sie jedoch fest, dass andere, ebenso fähige wie hingegebene Mitarbeiter sich um die Bedürftigen kümmern sollten. Bis heute ist es so, dass manchen das Herz mehr für die Evangelisation, anderen mehr für die Diakonie schlägt. Bis heute ist es so, dass manchen das Herz mehr für die Evangelisation, anderen mehr für die Diakonie schlägt. Paulus vergleicht im Korintherbrief die Gesamtheit der Christen mit einem Körper, dessen Kopf Jesus Christus selbst ist. Dort macht er deutlich, dass alle Gläubigen zusammengehören und jeder Gläubige mit seinen besonderen Gaben wichtig ist, sei es „Hilfeleistungen“ oder „Lehre“ oder irgendetwas anderes.
Ein weiteres, etwas „jüngeres“ Beispiel ist August Hermann Francke (1663-1727): Er gilt als ein Vater der modernen Sozialarbeit und baute Waisenhäuser, Schul- und Wohngebäude, Werkstätten und Gärten für bis zu 2.500 Menschen. Francke war davon überzeugt, dass zwei „Standbeine“ zu einem selbstbestimmten Leben gehören: Das Erlernen von alltagspraktischen Dingen und das Erkennen der wahren Gottseligkeit.
Ähnlich sah das Johann Hinrich Wichern, der im 19. Jahrhundert gelebt hat. Er war Begründer des „Rauhen Hauses“ in Hamburg, das als Rettungsanstalt für verwahrloste Kinder gedacht war. Zur Zeit Wicherns war das bahnbrechend: Üblicherweise gab es nicht Rettungs- sondern Strafanstalten (beispielsweise in Form von Kindergefängnissen). Wichern hielt dem sein Motto dagegen: „Hilfe statt Strafe“. Obwohl er der erste war, der die Idee einer Ausbildung für „Sozialpädagogen“ hatte, war er nicht in erster Linie „sozial“. Aus seiner Sicht gehörten Mission und Diakonie untrennbar zusammen. Das Wort Gottes und der Ruf zum Glauben waren für ihn die Quelle der Kraft und der Rettung der Menschen.
Eine weitere, bis heute aktive Organisation ist die Heilsarmee mit ihrem ebenso legendären wie genialen Motto: „Suppe, Seife, Seelenheil“, die seit ihrer Gründung die Arbeitsbereiche Sozialarbeit und christliche Verkündigung verknüpft.
Die Liebe aktiv in Wort und Tat
„Das“ Vorbild schlechthin ist Jesus Christus selbst. Wie handelte er, als er auf der Erde lebte? Er predigte nicht nur, er heilte und half. Er kümmerte sich um alle Randgruppen, die es zur damaligen Zeit gab: Kranke und Aussätzige, Zöllner und Prostituierte, Samariter – den Abschaum der Gesellschaft. Er kümmerte sich um alle Randgruppen, die es zur damaligen Zeit gab: Kranke und Aussätzige, Zöllner und Prostituierte, Samariter – den Abschaum der Gesellschaft. Als Zweck seines Lebens gab er unter anderem an, dass er gekommen sei, um zu dienen und sein Leben zu geben als Lösegeld für viele (Matthäus 20,28). In diesem Satz steckt beides:
Der Dienst am Nächsten und die Rettung für die Ewigkeit.
Und immer wieder rief Jesus dazu auf, es ihm gleichzutun – zu lieben, zu dienen, zu predigen. Mich beeindruckt sehr, mit welcher Hingabe Jesus gehandelt hat. An verschiedenen Stellen lesen wir von ihm, dass er „innerlich bewegt“ war. Ein Paradebeispiel ist
Matthäus 9,36: „Als er aber die Volksmengen sah, wurde er innerlich bewegt über sie, weil sie erschöpft und verschmachtet waren wie Schafe, die keinen Hirten haben“.
Und das wünsche ich auch uns:
- Berührt zu sein von dem Elend und der Not um uns herum
- und dann zu handeln, wie Jesus es getan hat.
Wie kann das in der Praxis aussehen?
Total unterschiedlich, davon bin ich überzeugt. Schließlich folgen wir keiner Methode, sondern einem lebendigen Herrn, der uns alle unterschiedlich begabt und beauftragt hat! Trotzdem will ich am Beispiel unseres christlichen Kinder- und Jugendhilfevereins „einer für alle“ aufzeigen, wie wir versuchen, Diakonie und Evangelisation zu verbinden.
Gegründet wurde der Verein nach einer Evangelisation mit dem Mobilen Treffpunkt im Mai 2000. Dort lernten wir vor allem Jugendliche aus schwierigen sozialen Verhältnissen kennen. Wir sahen die Notwendigkeit, ihnen neben der guten Botschaft von Jesus, eine sinnvolle Freizeitgestaltung sowie perspektivisch auch Wohn- und Beschäftigungsmöglichkeiten anzubieten. Bei allen unseren offenen Angeboten ist es uns wichtig, immer einen kurzen Gedankenanstoß in Form einer Andacht, eines „Spruchs des Tages“, eines persönlichen Berichts oder eines kostenlosen christlichen Buches oder Kalenders weiterzugeben. Manchmal führt dies zu weiteren Gesprächen oder Fragen, manchmal nicht.
Wir wollen neugierig machen, aber niemandem den Glauben aufdrängen. Diejenigen, die näheres Interesse haben, laden wir ein, beispielsweise zu einer Evangelisation mitzukommen, einen Gottesdienst oder einen evangelistischen Hauskreis zu besuchen.
Während wir uns ursprünglich vor allem durch Spenden finanziert haben, sind in den letzten Jahren einige Arbeitsbereiche entstanden, die von öffentlichen Trägern wie dem Jugendamt oder der Agentur für Arbeit bezahlt werden wie Hilfen zur Erziehung, Schulsozialarbeit oder das Beschäftigungsprojekt. Wir haben uns diese Bereiche nicht bewusst gesucht, sie haben sich ergeben und wir haben die Möglichkeiten, die sich dadurch boten, gerne angenommen. Uns ist klar, dass wir von einem öffentlichen Träger nicht fürs „Missionieren“ bezahlt werden, sondern dafür, dass wir qualifizierte Sozialarbeit leisten. Dennoch ist es uns wichtig, dass wir nicht ausschließlich zum sozialen Verein werden, sondern eben als christlicher Verein erkennbar bleiben. Deshalb sind Mitarbeitende bei uns nur Leute, die Jesus kennen und als Christen leben wollen.
Lieber wollen wir Projekte aufhören als Kompromisse einzugehen. Lieber wollen wir Projekte aufhören als Kompromisse einzugehen.
Und wenn wir direkt gefragt werden, was immer wieder vorkommt, können wir natürlich auf unseren Glauben hinweisen (wie übrigens an jeder anderen Arbeitsstelle auch!). Immer wieder machen wir die erstaunliche Erfahrung, dass junge Leute bei uns zum ersten Mal etwas von Jesus hören.
Ein dreißigjähriger Mann war im Rahmen einer Maßnahme zu unserem Beschäftigungsprojekt gekommen. Durch das Gebet vor der Frühstückspause erfuhr er, dass wir Christen sind. Darauf sagte er zu seinem Anleiter: „Du bist der erste Christ, dem ich begegne.“ Im „christlichen“ Deutschland kann man dreißig Jahre alt werden, ohne einen einzigen Christen kennenzulernen? Vielleicht.
Vielleicht sind ihm aber auch schon einige andere Christen über den Weg gelaufen, die für ihn nicht als Christen erkennbar waren? Solche Erlebnisse erschrecken und ermutigen uns gleichzeitig, mit unserem Glauben nicht hinter dem Berg zu halten. Denn es ist beides wichtig – Wort und Tat!