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Selbstzweifel

Auf Kriegspfad mit dem eigenen Körper

Dieser Artikel soll aufmerksam machen und möchte anregen sich auseinander zu setzen und sensibel zu werden.

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9. Januar 2014
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7 min
„…ja ich habe auch geritzt und ich fühlte mich immer gut wenn ich gesehen habe, dass es blutet (…) nach 1 1/2 Jahren habe ich gemerkt, dass es mir doch nichts bringt.  Es befreit zwar für einen Augenblick ungemein, aber danach kommt alles wieder und es geht einem wieder Scheiße  (…) ich bin jetzt seit ca. 9 Monaten drüber weg (…) manchmal schaue ich mir meine Narben an und denke, warum ich das nur getan habe. Wieso? Die ganzen Erinnerungen die sich hinter den Narben verbergen werden mich mein ganzes Leben lang begleiten…“

www.welt.de/wissenschaft/article762631/Jugendliche_ritzen_sich_immer_oefter.html

Immer mehr Jugendliche und auch junge Erwachsene fügen sich selbst diese Narben zu. Längst ist Selbstverletzung kein Phänomen mehr, das Einzelne betrifft. Das was diese, wahrscheinlich jugendliche, Nutzerin eines Internetchats beschreibt, ist aktueller wie nie zuvor. Ritzen, eine Form der Selbstverletzung, bei der sich vorwiegend junge Mädchen mit scharfen Gegenständen, in der Regel an den Unterarmen und/oder Oberschenkeln selbst verletzen. Hinzu kommen Selbstverletzungen, die sich Jugendliche unter anderem mit Zigaretten oder Feuerzeugen in Form von Verbrennungen selbst oder indirekt durch ein gestörtes Essverhalten zufügen. Auch Magersucht oder Bulimie sind keine Einzelfälle. Sind am Ende gar in unseren Gemeinden auch junge Leute auf Kriegspfad mit ihrem eigenen Körper?

Dieser Artikel soll aufmerksam machen und möchte anregen sich auseinander zu setzen und sensibel zu werden. Er soll und kann keine fachlich-therapeutische, insbesondere auch medizinische Hilfe ersetzen.

Wendet euch ggf. an Fachleute! Bereits ein Erstgespräch mit Betroffenen oder Eltern sollte immer gut überlegt und vorbereitet sein. Wir alle sind Gemeindemitarbeiter aber in der Regel keine Therapeuten und Ärzte! Und: Nicht jeder Teenager, der nicht in einen Tümpel springt oder bei einer Freizeit oder einer Gemeindeveranstaltung wenig oder auch mal einige Tage so gut wie gar nichts isst, hat Essstörungen oder verletzt sich selbst, weil das Shirt sehr lange Ärmel hat.

Was passiert da eigentlich?

„… ich fühlte mich immer gut, wenn ich gesehen habe, dass es blutet…“

Anders als bei Selbstmordgefährdeten haben Menschen, die sich selbst verletzen nicht die Absicht sich selbst zu töten, sondern sie verletzen sich in der Regel, um Spannung oder Stress abzubauen und negative Erfahrungen oder Emotionen auszugleichen. Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung geht davon aus, dass gerade die offen sichtbaren Selbstverletzungen mit teils tiefen Schnitten und Narbenbildungen an Armen und Beinen auch eine interaktive Komponente zeigen und Reaktionen der Umwelt geradezu herausfordern. Mein Eindruck ist, dass es gerade als Außenstehender (in der Gemeinde) aber oft schwer fällt dieses Verhalten, insbesondere in der Anfangsphase überhaupt wahrzunehmen.

Ein gefährlicher Trend oder brutale Wirklichkeit?

Beides zeichnet sich ab. Da ist zum einen der gefährliche Trend. Sich untereinander einen „Tipp“ geben, es mal ausprobieren, dazugehören wollen. Ein bisschen so, wie mit Drogen gedealt wird, wird untereinander mit der Erfahrung gehandelt, „sich auch schon mal geritzt zu haben“. Wer unter diesen Umständen mit dem „sich selbst verletzen“ in Berührung kommt, wird bei entsprechender Sozialisation glücklicherweise nicht lange dabei bleiben. Aber da ist auch noch die brutale Wirklichkeit – eine Entwicklung, die leider zunehmend zu knallharter Realität wird und auch vor christlichen Jugendgruppen und Gemeindekindern nicht „halt“ macht. Zunächst frische Wunden und dann Narben, die ein Leben lang begleiten.

Auch Jugendliche mit Essstörungen haben normaler Weise nicht das Ziel ihrem Leben ein Ende zu setzen, allerdings bewegen sie sich schnell auf einem schmalen Grad und gerade Magersüchtige begeben sich mit ihrem Essverhalten schnell in Lebensgefahr. Sie sind von ihrem äußeren Erscheinungsbild auffallend dünn, hoch sensibel für die Bedürfnisse anderer und können sich verbal gut mit Freunden, Bekannten und Verwandten auseinander setzen. Der Zugang zu ihrer eigenen Gefühlswelt ist ihnen jedoch sehr schwer möglich. Daher ist es auch für nahe stehende Personen schwer, sie emotional zu erreichen und zu stützen. Typisch für Magersucht (Anorexie; Anorexia nervosa) ist, dass der Körper als Feind erlebt und bekämpft wird. Dies äußert sich unter anderem durch ständiges wiegen und sich zu dick fühlen.

Manchmal auch durch extreme Ablehnung jeglicher lustbetonter Tätigkeiten, denn Magersüchtige leben oft sehr spartanisch. Anders sind von Ess-Brech-Sucht (Bulimie; Bulimia nervosa) Betroffene augenscheinlich normal, meist schlank. Sie sind sehr gepflegt und ehrgeizig. Es ist kaum zu erkennen, dass sie Probleme haben und Hilfe benötigen. Ihr Essverhalten in der Öffentlichkeit ist kontrolliert. Typisch für Ess-Brech-Sucht ist, dass nach außen hin alles funktioniert und alles perfekt ist. Die Fassade stimmt – Bulimie ist von Heimlichkeiten geprägt.

Die körperlichen Folgeschäden sind, je nachdem wie versucht wird die Essanfälle rückgängig zu machen, unterschiedlich: Es können Herzrhythmusstörungen, Kreislaufprobleme, Zahnschmelzschäden, Elektrolytentgleisungen (Kalium-/Magnesiummangel) und/oder Nierenschäden auftreten. Die Regelblutung kann ausbleiben, Schlafstörungen, Haarausfall und/oder Konzentrationsstörungen können auftreten. Mehrfachabhängigkeiten mit Alkohol, Drogen, Medikamenten oder Kaufsucht kommen vor. Einige verletzen sich zusätzlich selbst.

Sich selbst wehtun, der Kampf mit dem Essen – Wie kommt es dazu?

„Nicht zuletzt der Druck, Idealen und Anforderungen nicht genügen zu können, führt bei immerhin 10% der Jungen und 20% der Mädchen zu einer autoaggressiven Wendung in Form von absichtlichen Selbstverletzungen. Selbstverletzendes Verhalten wird häufig durch belastende Ereignisse ausgelöst. Dazu gehören Misserfolgs- und Versagenserlebnisse, Verlusterlebnisse, soziale Isolation oder Drucksituationen…“ und letztendlich auch Gewalt- und/oder Missbrauchserfahrungen. Auch ohne empirische Zahlen kann man die Schlagworte, die den Alltag der Jugendlichen im 21. Jahrhundert prägen herauslesen:

  • Misserfolgs- und Versagenserlebnisse
  • Verlusterlebnisse
  • Soziale Isolation oder Drucksituationen
  • Ungünstige familiäre Verhältnisse
  • Leistungsgesellschaft

Da sind sie wieder, diese Narben oder Wunden, die sich festsetzen. Jeder Schnitt in den Unterarm, jedes Kilo, das die Waage weniger anzeigt und jedes Brechen nach dem Essen ist wie ein Befreiungsschlag…

Und es geht manchmal schon früh los, denn viele Jugendliche erleben diese Misserfolgs- und Versagenserlebnisse bereits in den unteren Klassen der Schule. Die Leistungen, die die Gesellschaft und nicht zuletzt die Elternhäuser, in den allermeisten Fällen mit positiven und gut gemeinten Absichten, aber katastrophalen Auswirkungen fordern, sind für viele nicht erreichbar und machen auch vor christlichen Elternhäusern nicht halt. Und in der Jugendgruppe, dem Chor oder anderen Kreisen müssen sie dann auch noch Leistung erbringen, weil leider auch in der Gemeinde oft die Schönen, die ehrgeizigen im Mittelpunkt stehen und Schwächere am Rande stehen. Wichtig! Jemand, der sich regelmäßig selbst verletzt, braucht in der Regel professionelle, kontinuierliche Hilfe. Diese professionelle Hilfe ist so in der Form in vielen Ortsgemeinden nicht möglich. Zunehmend kommen in unsere Gemeinden Familien mit Kindern, die einen Elternteil und zusätzlich hinzugewonnene Lebensgefährt/innen durch Trennung und Scheidung verloren haben. Viele wachsen einen großen Teil ihres Lebens ohne Vater oder verlässliche, immer anwesende, männliche Bezugspersonen auf. In vielen Familien sind Gewalt oder Missbrauch durch unterschiedliche Familienmitglieder ein Thema. Eltern ahnen in manchmal vermeintlich heilen Welten nicht, in welcher Beziehung ihre Kinder (z.B. Geschwister) zueinander stehen und wo Gewalt stattfindet. Sich selbst verletzen ist dann ein Ventil.

„Wenn ich mich ritze weiß ich, dass ich noch lebe, dass ich überhaupt noch existiere und da bin….“

Was kann man tun?

In 1.Korinther 6,12, besonders im letzten Teil des Verses: „aber ich will mich von nichts beherrschen lassen.“ hat Paulus die Grenze zwischen Freiheit und Kontrollverlust, wie sie auch beim sich selbst verletzen auftritt, sehr gut beschrieben.

Gott bietet Hilfe an, raus zu kommen, aufzuhören und heil zu werden, weil ER jeden Einzelnen wunderbar gemacht hat (vgl. Psalm 139). Es sollte unser Ziel sein das den Teenagern und Jugendlichen, mit denen wir zu tun haben weiterzugeben und auch ganz praktisch jeden Tag so zu leben.

Es ist ein schwieriges Feld, auf dem wir, wenn wir uns auf ihm bewegen, immer auf Gottes Führung angewiesen sind. Auf der einen Seite sieht man sich gerade bei Teenagern, besonders bei gläubigen Eltern, sofort in der Pflicht die Eltern zu informieren, auf der anderen Seite können ungünstige Familienverhältnisse die Ursache für Selbstverletzungen sein. Gerade in der Gemeinde nicht selten sehr schwierig. Sofern nicht „Gefahr im Verzug“ ist, sollte man deshalb aus meiner Sicht immer und zu jeder Zeit mit dem Jugendlichen gemeinsam arbeiten. Versuchen Personen des Vertrauens (Jugendleiter, Älteste, Verwandte, Eltern von Freunden) hinzu zu ziehen. Jeder Schnitt in den Unterarm, jedes Kilo, das die Waage weniger anzeigt und jedes Brechen nach dem Essen ist wie ein Befreiungsschlag… Dabei sollte gerade bei Gesprächen mit Mädchen darauf geachtet werden, dass immer eine Frau bei den Gesprächen dabei ist. Zum einen ist „sich selbst verletzten“ im Rahmen des hier nicht ausführlich erwähnten Borderline Syndroms häufig ein Ausdruck von Vaterschwäche, die zu einem verzerrten Männerbild bzw. Verhältnis zu Männern im Allgemeinen führen kann (nicht muss) zum anderen ist es als „Schutz“ für den Seelsorger und die teilweise, bei sich Selbstverletzenden Jugendlichen auftretende Störung der Wahrnehmung von Nähe und Distanz, nicht zu unterschätzen.

1. Lasst uns anfangen zu beten.

Kinder und Jugendliche dem Schutz unseres Herrn anbefehlen. Tag für Tag, regelmäßig für sie beten, um sie ringen. Auch wenn wir selbst keine Kinder (mehr) in diesem Alter haben sind wir gefordert. Kinder und Jugendliche von heute brauchen unser Gebet mehr denn je.

2. Neugierig sein

Bereit sein, sich mit der Lebenswelt, dem Alltag der 13-25 jährigen auseinander zu setzen. Was ist aktuell? Was beschäftigt sie? Was bedrückt oder erdrückt sie?

3. Gemeinschaft suchen

Suche Gemeinschaft mit Jugendlichen. Versuche sie und ihre Lebenssituation kennen zu lernen und Hilfe anzubieten oder zu organisieren. Wichtig ist, dass du wirklich bereit und offen bist. Nichts ist schlimmer, als in so einem Prozess oberflächlich zu werden oder aufzuhören. Vielleicht kannst du Nachhilfe geben, zeigen, wie man Mofas oder Fahrräder repariert oder hin und wieder Mittags ein Essen bereitstellen, für das Kind einer allein erziehenden Mutter, das mit dem Schlüssel aufwächst und sich normalerweise eine Tiefkühlpizza in den Ofen schiebt. Wissen sie, dass Gott sie wunderbar gemacht hat? Sei sensibel – auch in der Gemeinde. Manchmal können über die Handballen gezogene Ärmel des Pullovers oder Handschuhe ohne Finger ein Zeichen sein, dass jemand sich selbst verletzt. (Behutsam vorgehen! Es kann sich nämlich auch um einen Modetrend handeln.)

4. Hilfe anbieten

Die Betroffenen brauchen neben fachlicher und seelsorgerlicher Hilfe zusätzlich Ansprechpartner oder Bezugspersonen. Kannst du jemanden langfristig begleiten oder Begleitung in der Gemeinde finden? Betroffene und ihre Angehörigen benötigen kontinuierlich die Unterstützung der Gemeinde und ihres Umfeldes. Dabei handelt es sich ggf. um einen langjährigen Prozess.

5. Umdenken

Auch in unseren Gemeinden macht der Leistungsdruck nicht immer halt. Diejenigen, die „fit“ sind fragen wir gerne, ob sie mitarbeiten möchten. Die, die sich schwer tun bleiben außen vor. Elitäres Denken macht sich hier und da breit. Nicht nur die Schönsten, Besten und Tollsten sind in Gottes Augen wertvoll. Deutschland sucht vielleicht den Superstar, aber unsere Jugendstunden und Versammlungen sollten wieder verstärkt davon geprägt sein, dass wir ein Leib und gemeinsam stark sind, mit allen Stärken oder Schwächen, die der Einzelne mitbringt. (Vgl. 1.Korinther 12)